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Alt 11.01.2003, 08:55   #1
Don Corleone
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Was zu Horch und Kuck in Thüringen(MfS)

Das MfS in Thüringen während der Wende 1989/90



Der zentralistische und streng hierarchische Aufbau der DDR ließ wenig regionale Besonderheiten zu, so daß sich auch die Bezirksverwaltungen (BV) und Kreisdienststellen (KD) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Thüringen im Prinzip nicht von denen anderer Bezirke in der DDR unterschieden. Als thüringische Eigenheiten, die sich auch auf die Tätigkeit des MfS auswirkten, sind allenfalls folgende Punkte zu nennen: Thüringen besitzt keine großstädtischen Metropolen, sondern ist durch kleinere Großstädte wie Erfurt, Gera und Jena sowie durch mittelgroße Städte strukturiert. Während des Herbstes 1989 zeigte sich schnell, daß die thüringische Opposition zunächst keine Vorreiterrolle einnahm wie die Opposition in den großen städtischen Zentren der DDR. Ebenso wurde jedoch deutlich, daß auch in den meisten Städten der thüringischen Provinz Gruppen existierten, die sich zu einer Opposition formierten. Eine weitere Besonderheit war, daß die thüringischen Bezirke Erfurt, Gera und Suhl zu DDR–Zeiten als relativ staats– und parteitreu galten. Die 1. Sekretäre der SED–Bezirksleitungen Gerhard Müller, Herbert Ziegenhahn und Hans Albrecht, waren Vertreter einer harten politischen Linie, die innerhalb ihres Machtbereichs kein abweichendes Verhalten duldeten. Einen Hans Modrow hatte Thüringen nicht. Herbert Kroker, der Gerhard Müller am 11. November 1989 als 1. Sekretär der SED–Bezirksleitung Erfurt ablöste und als Hoffnungsträger der Partei galt, war zuvor politisch kaltgestellt. Am schwierigsten für die Opposition war die Situation im Bezirk Suhl. Bernd Winkelmann, nach Einschätzung des MfS "die exponierteste Führungskraft antisozialistischer Sammlungsbewegung im Bezirk", berichtet, der Leiter der MfS–Bezirksverwaltung Suhl, Generalmajor Lange, habe als "einer der schärfsten Stasioffiziere" der DDR gegolten. In einem Zeitungsinterview Anfang 1990 habe Lange gesagt, er hätte mit Albrecht eine eigenständige "Sozialistische Republik Thüringen" errichten sollen, dann wäre die Wende in Suhl anders verlaufen. Möglicherweise hat die lange Staatsgrenze der DDR zur BRD in Thüringen zu dieser besonders harten Haltung der Partei– und Sicherheitsorgane beigetragen. Eine Sonderrolle nahm Jena ein, das für die Opposition der DDR vor allem in den 70er Jahren Bedeutung hatte. Nicht wenige Zeiss–Arbeiter in Jena galten als kritische "Arbeiter–Intelligenz".

Die Organisationsstruktur des MfS
Die Bedeutung von Zeiss wird auch daran deutlich, daß das MfS eine eigene "Objektdienststelle zur Sicherung des VEB Kombinat Carl Zeiss Jena" unterhielt. In Thüringen gab es die drei Bezirksverwaltungen des MfS Erfurt, Gera und Suhl, denen zusammen 32 Kreisdienststellen untergeordnet waren. Die KD Altenburg und Schmölln waren der BV Leipzig, die KD Artern der BV Halle unterstellt. Die Mitarbeiterin des Thüringer Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Andrea Herz, und der Mitarbeiter der Außenstelle Erfurt der "Gauck"–Behörde, Christian Hofmann, haben berechnet, daß 1989 in den drei Thüringer Bezirken der DDR etwa 6500 bis 7000 Personen hauptamtlich für das MfS arbeiteten. Davon entfielen ungefähr 1500 Personen auf die Kreisdienststellen. Im Bezirk Erfurt hatten die Kreisdienststellen zwischen 100 (Erfurt) und 33 (Bad Langensalza) hauptamtliche Mitarbeiter. Die Bezirksverwaltungen waren sehr viel größere Einheiten und hatten in Erfurt etwa 2200, in Gera 1700 und in Suhl 1600 hauptamtliche Kräfte.

Die Kreisdienststellen des MfS führten operative Personenkontrollen durch, nahmen Sicherheitsüberprüfungen von Personen vor (z.B. bei Geheimnisträgern, Reisekadern, Westreisenden usw.), erstellten regelmäßige politisch–operative Lageanalysen und Stimmungsberichte und arbeiteten dabei eng mit der Kreisparteileitung und den staatlichen Einrichtungen zusammen. Nicht zuletzt überzogen sie den jeweiligen Landkreis mit einem engmaschigen IM–Netz. Die Bezirksverwaltungen waren die vorgesetzten Diensteinheiten der Kreisdienststellen und hatten ebenfalls "operativ" arbeitende Abteilungen, zum Beispiel die Abteilung XX, die für die Überwachung des Bereiches Staat/Kirche/Opposition zuständig war, und die Abteilungen IX (politische Strafverfolgung), XVIII (Kontrolle der Wirtschaft), VII (Polizei/Inneres), VI (Tourismuskontrolle), XV (Auslandsaufklärung). An der Spitze der Bezirksverwaltung stand der Leiter, der vier Stellvertreter hatte: den 1. Stellvertreter des Leiters der BV, den Stellvertreter Operativ, den Stellvertreter Sicherstellung und den Stellvertreter Aufklärung. Die Leiter der thüringischen Bezirksverwaltungen waren Generalmajor Dr. Josef Schwarz (Erfurt), Generalmajor Dieter Dangrieß (Gera), und der bereits genannte Generalmajor Gerhard Lange (Suhl). Die etwa 30 Abteilungen, Arbeitsgruppen und Sonderreferate jeder BV waren entweder dem Leiter direkt oder einem seiner Stellvertreter unterstellt.

Die Inoffiziellen Mitarbeiter
Etwa 15 Prozent aller hauptamtlichen MfS–Mitarbeiter waren operative Mitarbeiter, d.h. Mitarbeiter, die Inoffizielle Mitarbeiter (IM) führten. In der gesamten DDR gab es am 31. Dezember 1988 etwa 109.000 aktive IM (ohne Hauptabteilung Aufklärung und IM, die eine konspirative Wohnung stellten). Davon entfielen knapp 19.000 auf Thüringen (Suhl 4500, Gera 5900, Erfurt 8200). Gerade an der Tätigkeit der Inoffiziellen Mitarbeiter läßt sich der Funktionswandel des MfS deutlich ablesen: Anfang der 50er Jahre wurden als Hauptaufgaben der IM die Aufdeckung und Verhinderung der Spionage–, Sabotage–, Diversions–, Zersetzungs– und Schädlingsarbeit amerikanischer und deutscher Agentenzentralen genannt. Der Schwerpunkt der Arbeit war deutlich auf die Abwehr äußerer Einflüsse gerichtet. Im Laufe der 70er und Anfang der 80 Jahre richtete sich die Arbeit des MfS immer mehr auf oppositionelle Kräfte innerhalb der DDR. Der IM–Bestand wurde seit den 50er Jahren ständig erhöht, stagnierte aber ab etwa 1984.

Über 90 Prozent aller IM waren Männer, Frauen waren nur etwa mit fünf bis zehn Prozent vertreten. Der "durchschnittliche" IM war männlich und zwischen 25 und 40 Jahre alt. Aber auch Jugendliche wurden als IM geworben. Die wichtigsten Typen Inoffizieller Mitarbeiter waren: Der IMS (Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung des Verantwortungsbereiches), der mit 85 Prozent das Gros aller IM darstellte; der IMB (Inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen), der auch als "Elite" des IM–Bestandes bezeichnet wird, da er direkt auf "feindlich–negative" Personen angesetzt wurde und unter allen IM nur mit 3,6 Prozent (bezogen auf Ende 1988) vertreten war; der FIM (Führungs–IM), der andere IM anleitete, Ende der 80er Jahre aber im "Aussterben" begriffen war und nur noch mit einem Anteil von 4 Prozent vertreten war; der IME (IM für den besonderen Einsatz), der im Beruf oder innerhalb gesellschaftlicher Organisationen eine Führungsposition innehatte (z.B. ein Kaderleiter), vertreten mit einem Anteil von etwa 8 Prozent; der GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit); der IMK (Inoffizieller Mitarbeiter zur Abdeckung der Konspiration); der HIM (Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter). Kurz vor der Wende spitzelten in Thüringen etwa 10.000 IMS, 4000 GMS, 2650 IMK und 900 FIM. Der IMB–Bestand dürfte deutlich höher gelegen haben, als ihn Andrea Herz angibt, die für Thüringen von einer Zahl von etwa 200 ausgeht. Ende Juni1989 waren allein im Bezirk Erfurt 162 IMB tätig. Obwohl der Anteil der IMB am IM–Gesamtbestand relativ gering war, leisteten sie einen großen Teil der inoffiziellen Arbeit: Etwa 25 Prozent des "Informationsaufkommens" ging auf diesen Typus des Inoffiziellen Mitarbeiters zurück.

Wer IM–Berichte liest, wird feststellen, daß zumindest ein Teil der Inoffiziellen Mitarbeiter nur über mangelhafte Rechtschreibkenntnisse und eine schwache Ausdrucksfähigkeit verfügte. Dies deutet darauf hin, daß es dem MfS keineswegs immer gelang, gebildete und intellektuell versierte Menschen zu gewinnen. Es gab aber auch den Typus des IM, der außerordentlich belesen war und noch in der Gegenwart versucht, sein Handeln mit philosophischem, teilweise geradezu theologischem Eifer zu rechtfertigen. Auch psychologisch gesehen sind viele Fälle inoffizieller Mitarbeit interessant. Beispielsweise berichtete ein IMB über den späteren Erfurter Stasi–Auflöser Matthias Büchner im Oktober 1989, dieser sei bei einer Versammlung des Neuen Forum "wie immer als Obermacher aufgetreten". Einige IM, dies wird an solchen Berichten deutlich, fühlten sich ihren Opfern im alltäglichen Leben unterlegen. Man geht heute davon aus, daß Gewinnstreben nicht die wichtigste Motivation für eine inoffizielle Mitarbeit beim MfS war. Hansjörg Geiger, der ehemalige Direktor der "Gauck"–Behörde, schätzte, daß über 90 Prozent aller Werbungen des MfS "auf der Basis der Überzeugung" erfolgten.

Das MfS im Sommer und Herbst 1989
Die Krise der DDR, die 1989 offen zutage trat, bedeutete für das MfS zunächst einmal eine Erhöhung des Arbeitseinsatzes. Das MfS war über die Stimmung im Land zweifellos im Bild, glaubte aber lange Zeit, die Situation unter Kontrolle zu haben. Als Mielke den Leiter der BV Gera, Dangrieß, während einer Dienstbesprechung am 31. August 1989 fragte: "Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?", antwortete dieser: "Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da." Während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 war das MfS in "erhöhte Dienstbereitschaft" versetzt worden. Der Leiter der eher kleinen Kreisdienststelle Mühlhausen (1988: 47 hauptamtliche Mitarbeiter), Günter Siegel hat in einem der wenigen Berichte von MfS–Führungskräften, die der Öffentlichkeit bisher vorliegen, geschrieben, daß selbst im bis dahin sehr ruhigen Landkreis Mühlhausen "eine gewisse Spannung in der Luft lag". Siegel schreibt auch, daß es seines Wissensnach dem 7. Oktober weder innerhalb der Parteiführung noch innerhalb des MfS Pläne für den "Einsatz bewaffneter Kräfte, also gewaltsames Vorgehen" gab. Daraus kann man schlußfolgern, daß ein solches Vorgehen vor dem 7. Oktober durchaus diskutiert wurde. In der Tat gewinnt man beim Studium der Akten den Eindruck, daß es der SED aus rational nicht völlig erklärbaren Gründen vor allem darauf ankam, diesen 40. Jahrestag unbeschadet zu überstehen. Die Sicherheitskräfte in Erfurt wurden an diesem Tag um die Kaufmannskirche zusammengezogen, in der die Opposition zwei Gottesdienste als Gegenveranstaltungen durchführte. In Arnstadt wurden, wie es in einem MfS–Bericht verharmlosend heißt, 32 Personen "zugeführt", als sich am Nachmittag etwa 300 Personen im "westlichen Bereich des Holzmarktes, Nähe Gaststätte 'Waffelstübchen'" versammelten, zu einem Demonstrationszug formierten und "Gorbi–, Gorbi–"Rufe anstimmten. In der gesamten DDR nahmen die Sicherheitskräfte an diesem Tag 3456 Personen vorübergehend fest. Am 8. und 9. Oktober stand die Situation auf des Messers Schneide. Anders als zwischen dem 3. und 8. Oktober kam es nicht zu brutalen Einsätzen der Sicherheitskräfte.

Die angespannte Lage spürte auch die Bevölkerung, die sich am 7. Oktober mit Protesten zurückhielt. Die Bezirksverwaltung Erfurt des MfS stellte in der ihr eigenen bürokratischen Ausdrucksweise einen Rückgang "im Vorkommnisgeschehen mit Schmierereien, Auffinden von Handzetteln und anonymen Anrufen" fest. Als "territoriale Schwerpunkte" beim "Auffinden von Handzetteln" im Bezirk Erfurt wurden die Städte Erfurt, Sömmerda und Eisenach genannt, bei "Schmierereien" Bad Langensalza, Erfurt, Eisenach und Weimar. Wie geladen die Stimmung insgesamt aber war, verdeutlicht ein Zwischenfall in Bad Berka, bei dem ein 42jähriger Apparateanlagenfahrer in einer Gaststätte äußerte: "Kommunisten an die Wand". "Mit einer Bombe die Kreisleitung hochjagen". "Erich gehört nach Buchenwald".

Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS, vor allem die Führungskräfte fühlten sich in der DDR als Mitglieder einer Eliteeinheit, deren Exklusivität sich nicht nur in einer besseren Bezahlung, sondern auch darin äußerte, daß sie einen militärischen Status hatten. (Daraus leiteten einige MfS–Mitarbeiter im Herbst 1989 das Recht ab, sich bei einem Angriff mit der Waffe verteidigen zu dürfen.) Umso schmerzlicher war im Herbst 1989 das Gefühl, von einer unfähigen Partei– und Staatsführung allein gelassen zu werden und dem Volkszorn hilflos ausgeliefert zu sein. Beispielsweise heißt es in einem Bericht der BV Erfurt vom 12.November 1989 über Mitarbeiter des MfS, die an Grenzübergangsstellen eingesetzt wurden: Die "zukommandierten Genossen" arbeiteten unter den "schwierigsten Bedingungen"; es sei "keine hohe Moral" zu verzeichnen; unter den Angehörigen des MfS sei die Meinung verbreitet, daß sie von der Bevölkerung als "Schweine" angesehen würden und die "Dummen" seien, die für die Partei die "Karre aus dem Dreck" ziehen sollten.

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Alt 11.01.2003, 08:56   #2
Don Corleone
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Horch und Kuck II

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Die "Karre" war aber nicht mehr aus dem Dreck zu ziehen. Die SED war am Ende. Beispielsweise verlor die Stadtparteiorganisation Erfurt zwischen dem 1. Juni und dem 23. November 1989 knapp 12% ihrer Mitglieder und Kandidaten. Auch Erich Mielke gab ein desolates Bild ab. Als er am 13. November in der Volkskammer antrat, um die Arbeit des MfS zu rechtfertigen, ging seine gestammelte und gestotterte Rede teilweise im Hohngelächter der Abgeordneten unter. Einem Abgeordneten, der sich die Anrede "Genosse" verbeten hatte, antwortete Mielke seine inzwischen berühmt gewordenen Sätze: "Das ist doch eine formale Frage. Ich liebe [...] ich liebe doch alle [...] alle Menschen".

Die Auflösung des MfS
Vor diesem Hintergrund kündigte der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, in seiner Regierungserklärung vom 17. November an, das Ministerium für Staatssicherheit in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umzubilden. Zum Leiter des neuen Amtes wurde Generalleutnant Wolfgang Schwanitz bestimmt, ein Mann, der seit Anfang der 50er Jahre in den Diensten der Staatssicherheit gestanden hatte und zuletzt einer der Stellvertreter Mielkes gewesen war. Unter der Leitung von Schwanitz begann die Nasi, wie die gewendete Stasi im Volksmund genannt wurde, systematisch damit, Akten zu vernichten. Die Akten der Kreisdienststellen wurden entweder verbrannt oder in die Bezirksverwaltungen (offiziell jetzt Bezirksämter genannt) gebracht, die die Sicherheitskräfte für uneinnehmbar hielten.

Das Ende der Staatssicherheit begann am Morgen des 4. Dezember 1989 in Erfurt und ist mit dem Namen Dr. Kerstin Schön verbunden. Die 1957 geborene Ärztin war eine Mitbegründerin der Erfurter Gruppe "Frauen für Veränderung", die sich im September 1989 aus mehreren Fraueninitiativen gebildet hatte. Kerstin Schön traf sich am Morgen dieses Tages mit vier anderen Frauen im Erfurter Rathaus und forderte die Stadtverwaltung dazu auf, die Aktenvernichtung in der BV Erfurt des MfS/AfNS zu stoppen. Alsdeutlich wurde, daß die Stadt nichts unternehmen würde, informierten die Frauen die Presse, den Rat des Bezirkes, die Staatsanwaltschaft sowie Vertreter des Demokratischen Aufbruch und des Neuen Forum. Die Folge war, daß sich vor der BV und der KD Erfurt Menschen versammelten, die die Zugänge zum Gelände kontrollierten und verlangten, eingelassen zu werden. Die "Belagerung" des MfS/AfNS sprach sich in Erfurt wie ein Lauffeuer herum, immer mehr Menschen strömten zusammen. Kurz nach zehn Uhr erschienen drei Militärstaatsanwälte – die Staatsanwaltschaft hatte sich für nicht zuständig erklärt, da das MfS eine militärische Einheit sei – und betraten die BV. Nach einiger Zeit war der Leiter, Schwarz, dazu bereit, eine Delegation von zehn Personen zu empfangen. Die späteren Besetzerinnen und Besetzer wurden in den Sitzungssaal über dem Hauptportal geführt und sahen sich dem Leiter der BV, vier oder fünf seiner wichtigsten Mitarbeiter und den Militärstaatsanwälten gegenüber. Almut Falcke, die zur Sprecherin der Delegation gewählt worden war, trug die Forderungen vor: erstens Einsichtnahme in alle Räume, zweitens Vorlage eines Planes des Gebäudes, drittens Zugang zum Computer. Während Schwarz noch versuchte abzuwiegeln ("Wissen Sie, Herr Mielke ist ein alter Mann, der ist nicht für so moderne Sachen wie einen Computer"), drang eine zweite Gruppe von Menschen unter Führung von Petra Büchner, Kerstin Schön und Ulrich Scheidt über den relativ schlecht gesicherten Hintereingang der BV in der Bechtheimer Straße in das Gelände ein und öffnete den Haupteingang in der Andreasstraße. Als Schwarz im Sitzungszimmer darüber informiert wurde, daß das Gebäude von einer Gruppe von 200 Personen gestürmt werde, war es für Gegenmaßnahmen bereits zu spät. Die Besetzung der BV Erfurt des MfS/AfNS war eine spontane Aktion, die von den "Frauen für Veränderung" ausging und getragen wurde und mit anderen politischen Gruppen und Parteien zunächst nicht abgesprochen war. Die Besetzung hatte Signalwirkung für die gesamte DDR.

Noch in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember konstituierte sich das Erfurter Bürgerkomitee und als sein Organ die Bürgerwache, die die Sicherung des Geländes übernahm. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit hatten zunächst noch Zugang, der ihnen erst Anfang Januar 1990 untersagt wurde. Die Hauptziele des Bürgerkomitees, in dem Vertreter der neuen Gruppen, der Blockparteien, nicht aber der SED paritätisch mit jeweils fünf stimmberechtigten Mitgliedern saßen, waren die endgültige Auflösung der Staatssicherheit (einschließlich der Entwaffnung und Entlassungaller Mitarbeiter) und die Sicherung aller Akten. Das Bürgerkomitee und sein Leitungsorgan, der Bürgerrat, verstanden sich aber auch als "Nebenregierung" zum immer noch existierenden Rat der Stadt und zur nicht demokratisch legitimierten Stadtverordnetenversammlung. Die Stärke des Erfurter Bürgerkomitees führte dazu, daß der später eingerichtete Runde Tisch auf Stadtebene keine zentrale Bedeutung erlangte.

In Suhl und Gera verlief die Besetzung der Bezirksverwaltungen völlig unterschiedlich. Suhl folgte dem Erfurter Vorbild und besetzte die "Stasiburg", wie die BV im Volksmund genannt wurde, in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember. Im Bezirk Suhl verliefen die Auseinandersetzungen besonders hart: In der "Stasiburg" soll eine bis an die Zähne bewaffnete Spezialeinheit gelegen haben, die aber nicht mehr zum Einsatz kam. Insgesamt erschossen sich im Bezirk Suhl drei Mitarbeiter der Staatssicherheit. Einen völlig anderen Verlauf nahm die Besetzung der BV Gera, die erst in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1990 ohne große Auseinandersetzungen erfolgte. In Gera diskutierte man in den Reihen der Bürgerbewegung noch Mitte Dezember 1989 darüber, alle Akten zu vernichten. Vor allem der Initiative von Michael Beleites und Pfarrer Roland Geipel ist es zu verdanken, daß diese Pläne gestoppt wurden.

Eine bis heute unbeantwortete Frage ist, wie gewaltbereit die SED und die Sicherheitskräfte der DDR waren. In allen Thüringer Bezirksverwaltungen des MfS wurden nach der Besetzung Hinweise darauf gefunden, daß es Pläne gab, im Falle eines Bürgerkrieges Ausländer und Oppositionelle zu isolieren und in Lagern zu internieren. Nach der Wende gingen diese Unterlagen zum Teil verloren, nachdem sie Staatsanwälten der DDR übergeben worden waren. Auffallend ist, daß diese Pläne zum großen Teil aus dem Jahr 1988 stammen. Der ehemalige Leiter der KD Mühlhausen, Günter Siegel, hat relativ glaubhaft versichert, es habe, nach dem 7. Oktober 1989 keinen Schießbefehl gegeben. Er habe sich im Oktober an seinen Erfurter Vorgesetzten, Generalmajor Schwarz, gewandt und "um eine Befehlslage ersucht, falls Demonstranten die KD angreifen oder in sie eindringen würden". Schwarz habe sich daraufhin um eine zentrale Entscheidung" in Berlin bemüht, aber keine klare Antwort erhalten, sondern nur die Anweisung, "es sei unter allen Umständen zu verhindern, daß eine Kreisdienststelle des MfS gewaltsam gestürmt wird". Letztlich mußte jeder Leiter selbst entscheiden, wie er sich verhalten würde. Am Nachmittag des 4. Dezember schickte der Leiter des AfNS, Wolfgang Schwanitz,ein Fernschreiben an alle Leiter der Kreis– und Bezirksämter, in dem auf die Besetzung in Erfurt hingewiesen und gefordert wurde, der "Zutritt unberechtigter Personen" sei überall "unbedingt zu verhindern". "Alle zur Verfügung stehenden Mittel" mit Ausnahme "gezielter Schußwaffenanwendung" seien zum Einsatz zu bringen. Offensichtlich war eine Mehrheit in den Reihen des MfS/AfNS angesichts der desolaten Lage, in der sich insbesondere die SED präsentierte, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bereit, die "Drecksarbeit" zu erledigen und auf das eigene Volk zu schießen. Vereinzelt wurde die Meinung vertreten, die Staatssicherheit sei ein "Staat im Staate" gewesen. Wenn damit gemeint ist, die Staatssicherheit sei bereit gewesen, die SED zu entmachten und die Herrschaft in der DDR zu übernehmen, muß man sagen, daß es bisher keine konkreten Hinweise auf solche Pläne gibt. Mielke mag über Mitglieder des Politbüro und ZK Dossiers angelegt haben, aber sie dienten wohl eher der Absicherung der eigenen Position als Putschplänen.

Copyright: Dr. Andreas Dornheim, Institut für Geschichte, Pädagogische Hochschule Erfurt
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