Dynamit AG Kaufbeuren

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  • Steinzeug
    Ratsherr


    • 21.07.2006
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    #1

    Dynamit AG Kaufbeuren

    Vorbemerkung: Jetzt habt ihr mich doch noch mit Eurem Bunkervirus angesteckt!


    Geschichte der Anlage

    1939:
    Das Heereswaffenamt gibt der Dynamit AG den Auftrag zur Errichtung einer Schießpulverproduktion bei Kaufbeuren. Im November `39 Baubeginn im sog. Hart, einem Wald nö von Kaufbeuren. Geplant ist eine Produktionsrate von 600 t/Monat rauchlosem Pulver für Infanteriemunition. Das Barackenlager Riederloh wird errichtet, dort werden Bauarbeiter und Werksangehörige untergebracht.

    1940:
    Die Kapazität soll auf 200 t/Monat reduziert werden. 2500 Arbeiter sind auf der Baustelle eingesetzt.

    1941:
    Der Zeitplan für die Fertigstellung der Anlage kann nicht eingehalten werden. Gegen Ende des Jahres werden die Bauarbeiten eingestellt. Grund: Wegen Überkapazitäten in der Munitionsproduktion wird die Anlage nicht mehr benötigt.

    1942:
    In einem Teil der Anlage wird eine Füllstation für Munition zu Versuchszwecken in Betrieb genommen. Wegen rasant ansteigendem Munitionsverbrauch der Wehrmacht soll jetzt die Produktion doch angefahren werden. Fast 200 Gebäude, darunter viele als Bunker für die Produktionsanlagen ausgeführt, werden fertig gestellt und mit erheblichem Aufwand gegen Fliegersicht getarnt. Dabei werden alle oberirdischen Bauteile dunkelgrün gestrichen, alle Dächer, teilweise sogar mit Bäumen, bepflanzt. Die Straßen werden ebenfalls grün gestrichen und mit Tarnnetzen überspannt. Abluftkamine werden von der Form her einem Tannenwipfel nachempfunden und lassen sich mittels Seilzug auf das Niveau der umliegenden Bäume absenken(der letzte Kamin ist inzwischen verschwunden, 1989 stand noch einer).

    1943:
    Im April kann mit der Pulverproduktion begonnen werden, 650 Personen arbeiten in der Anlage. Hergestellt wird Pulver für Gewehrmunition. Bei der Reparatur einer Anlage entzündet sich Schießpulver, für die werkseigene Feuerwehr der einzige größere Einsatz. Menschen kamen nicht zu Schaden.

    1944:
    Die Produktionsrate erreicht 250 t/Monat, es werden inzwischen auch Sprengstoffe für Granaten produziert. Im Labor werden neue Geschosse entwickelt und getestet, u.a. eine Gewehr-Panzer-Granate. Abteilungen des Heeres, der Luftwaffe, der Marine und der SS testen neue Munitionsentwicklungen, Marine und Luftwaffe führen Torpedotests in einem See bei Füssen durch. In der Anlage werden KZ-Häftlinge, überwiegend ungarische Juden, als Zwangsarbeiter eingesetzt. Sie müssen u.a. eine Produktionsanlage für Zündplättchen errichten. Viele sterben an Mangelernährung und an einer Typhusepidemie.

    1945:
    Die KZ-Außenstelle wird aufgelöst, die letzten überlebenden Häftlinge werden in andere Lager verlegt. Am 27.04.1945 marschieren die Amerikaner in Kaufbeuern ein, das DAG-Gelände wird von ihnen ignoriert. Am 30.04.1945 geht der Werkschutzleiter nach Kaufbeuren und übergibt dem US-Stadtkommandanten die Anlage. Später behaupten die US-Streitkräfte, sie hätten durchaus von der Existenz der Anlage gewusst. Es gab keine Luftangriffe auf das Gelände. Im November beginnen die Amerikaner mit der Verbrennung von Schießpulver, danach mit der Sprengung der Gebäude, insgesamt werden fast 100 der 200 Gebäude gesprengt.

    1946-1949:
    Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Gablonz.

    1950:
    Die Stadt Kaufbeuren lässt weitere Gebäude und Bunker sprengen.

    1953:
    Der neue Kaufbeurer Stadtteil erhält offiziell den Namen Neugablonz, ca. 15.000 Vertriebene haben sich angesiedelt und die traditionelle Glas- und Schmuckindustrie auf dem DAG-Gelände neu aufgebaut.

    2005:
    Teile des verbliebenen Trümmergeländes werden in eine Freizeitanlage umgewandelt.


    Gerüchte und Tatsachen:

    1. Die Anlage sei teilweise bis zu 7 Etagen unterkellert. Die Story langweilt inzwischen, denn sie wird von fast jeder kriegswichtigen Produktionsstätte des III. Reiches erzählt. Tatsächlich sind viele Bunker zur Hälfte im Boden versenkt, manche Gebäude haben zusätzlich ein Untergeschoß.

    2. Die Anlage verfüge über kilometerlange unterirdische Tunnels, die je nach Erzähler entweder mit LKW`s oder sogar Zügen befahren werden können, natürlich zweigleisig, bzw. zweispurig. Selbstverständlich sollen sich in den Tunnels noch fahrbereite KFZ bzw. ganze Güterzüge mit Munition befinden, von Uniformen und Waffen ganz zu schweigen. Tatsächlich existieren unterirdische Gänge, die sind ca. 1m breit und 1,80m hoch und dienten als Leitungskanäle für Versorgungsleitungen. Wärme wurde in oberirdischen Leitungen transportiert. Gleise gab es auch, aber oberirdisch, die führten ringförmig durchs ganze Gelände. Zum Transport von Materialien in der Anlage wurden Elektrokarren verwendet.

    3. Die Anlage wurde angeblich erst zwei Wochen nach der Kapitulation von einem GI zufällig entdeckt, weil er mit einem Jeep und weiblicher Begleitung in den Wald fuhr und dabei den Zaun der Anlage sah, und natürlich sollen hinter dem Zaun noch SS-Leute Wache geschoben haben. Die Story hab ich auch schon von mehreren Anlagen gehört. Tatsächlich wurde die Anlage seit 1939 ausschließlich von werkseigenem Wachpersonal bewacht, nur für die KZ-Häftlinge war ein SS-Kommando zuständig und die waren beim Anrücken der US-Streitkräfte längst über alle Berge. Die Anlage wurde am 30. April 1945 von einem Angehörigen des Werkschutzes an den US-Stadtkommandanten übergeben, Kaufbeuren wurde 3 Tage vorher besetzt, bis dahin ignorierten die Amerikaner das DAG-Gelände, warum auch immer.

    4. Die DAG-Anlage bei Kaufbeuren sei die einzige Mun-Fabrik, die die Alliierten während des ganzen Krieges nicht entdeckt haben. Alter Hut, das wird auch von anderen Anlagen erzählt. Wahrscheinlich haben sie die Größe der Anlage unterschätzt. Angeblich wussten die Amerikaner nach eigenen Aussagen von der Anlage.
  • Steinzeug
    Ratsherr


    • 21.07.2006
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    #2
    Wache/Tore

    Die beiden Wachgebäude waren nicht gegen Fliegersicht getarnt, als Tarnung diente der einem landw. Gebäude nachempfundene Baustil.

    Bild 1: Die ehem. Nordwache/Tor II, Ansicht von Süden, heute Gasthaus „Alte Heimat“
    Bild 2: Die ehem. Südwache/Tor I, Ansicht von Norden, jetzt Gasthaus „Alte Wache“
    Bild 3: Südwache, Ansicht von Süden
    Bild 4: noch mal Südwache
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      #3
      Feuerwache

      In der Feuerwache waren die Werksfeuerwehr, der Werksschutz, der Werksluftschutz usw. untergebracht. Im Erdgeschoß befanden sich die Fahrzeughallen und eine Werkstatt. Im Obergeschoß die Wachräume. Die Fahrzeughalle war vom Obergeschoß her über Rutschstangen zugänglich. Das Gebäude und der Schlauchturm haben ein wannenförmiges Betondach, das bepflanzt war. Der Dachstuhl mit Ziegeleindeckung wurde erst nach dem Krieg aufgesetzt, die Toröffnungen zugemauert und mit Fenstern versehen.

      Bild 1: Die ehem. Feuerwache, an der Vorderseite, zwischen den Betonpfeilern, befanden sich die Tore.
      Bild 2: gut erkennbar: das flache, auf Betonpfeilern abgestützte Betondach. Das Dachgeschoß wurde erst nach dem Krieg aufgesetzt.
      Bild 3: noch mal die Betonpfeiler und das flache Betondach.
      Bild 4: Detail am Dach
      Bild 5: Rückseite der ehem. Feuerwache mit Schlauchtrockenturm
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        #4
        Wasseraufbereitung und Kohlebunker

        Bild 1: Wasseraufbereitung, das Gebäude war mit einer Erdböschung umgeben, der schwarze Schutzanstrich ist teilweise noch zu erkennen. Das Dach war bepflanzt.
        Bild 2: Wasseraufbereitung, an der vorderen Wand ist in der oberen Hälfte noch teilweise der dunkelgrüne Tarnanstrich zu sehen
        Bild 3: Betonskelett des Kohlebunkers
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          #5
          Kesselhausreste und Trafohaus

          Bild 1: Vermutlich Reste des Kesselhauses, erkennbar ist eine Treppe, auf dem Foto nicht sichtbar sind die Fundamente für Abspannungen, evtl. für einen Kamin o.ä.
          Bild 2: Kesselhaus, schwer zu erkennen, diagonal durchs Bild führt die Treppe nach oben.
          Bild 3: Zugang zu einem unterirdischen Kabelkanal.
          Bild 4+5: Trafohaus
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            #6
            Turbinenhaus, Teil I

            Im Turbinenhaus standen die Dampfturbinen. Seit 2005 in eine Freizeitanlage integriert, ist es frei zugänglich. Das Untergeschoss ist nicht mehr zugänglich.

            Bild 1: Stirnseite des Turbinenhauses
            Bild 2: Das Turbinenhaus war bis zur Oberkante der Giebelwand mit Erde bedeckt und mit verschieden hohen Bäumen bepflanzt.
            Bild 3+4: Sockel des Abluftkamins, der oben ähnlich einem Tannengipfel ausgebildete, und mittels Seilzügen aus/einfahrbare Kamin ist inzwischen leider verschwunden, 1988 stand er noch da. Am schwarzen Schutzanstrich kann man die Höhe der ursprünglichen Erdüberdeckung erkennen.
            Bild 5: Giebelwand Turbinenhaus, unter dem Dachvorsprung ist die dunkelgrüne Tarnfarbe noch erhalten
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              Ratsherr


              • 21.07.2006
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              #7
              Turbinenhaus, Teil II

              Bild 1-4: Im Turbinenhaus
              Bild 5: Turbinenhaus, fast so gut getarnt wie damals…

              Das wars für diesmal,

              Grüße Jo.
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              • seewolf
                Heerführer


                • 06.12.2005
                • 4969
                • Schöneweide
                • Ebinger Uvex 710,Metromag 880 Schiebestangenfinder Minelab XS-2 PRO & Whites IDX PRO

                #8
                Das sind ja Super Bilder und super Bericht.
                Paar Brocken Beton und schon ist man infiziert!!!
                Gruß andreas
                S.S.S.S

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                • Twinrider
                  Heerführer


                  • 29.09.2004
                  • 1232
                  • Somewhere in the middle of nowhere !
                  • c-scope tr440

                  #9
                  Hallo Steinzeug,
                  na das nenn ich jetzt mal einen tollen Bericht. Super recherchiert ! Klasse Fotos !

                  Gruß vom Irrlicht seinem Twinrider !!
                  der Twinrider
                  -------------------------------------------------
                  Per mare et per terras - Scotland Forever ! Bannockburn 1314

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                  • htim
                    Heerführer


                    • 13.01.2004
                    • 5812
                    • Niedersachsen / Region Hannover
                    • Xenox MV9

                    #10
                    Vielen Dank für diesen interessanten, ausführlich recherchierten Beitrag

                    Die Verwendung von Fernwärme zur Beheizung der Gebäude und der Einsatz von Elektrokarren zum Transport wurde in den Pulverproduktionsbetrieben zur Vermeidung unnötiger Zündquellen vorgezogen. Daher sind weitläufige Versorgungskanäle nicht ungewöhnlich.
                    Gruß,
                    htim

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                    • Hottenhorst
                      Ritter


                      • 27.04.2005
                      • 367
                      • Ecke Venloer Heide
                      • XP ADX100

                      #11
                      Wirklich klasse, und vor allem, eine Entkräftigung bereits bestehender Gerüchte.
                      Davon gibts eh schon genug, aber es zeigt, wie schnell nicht haltbare Legenden entstehen.

                      Gruß

                      Hotte

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                      • voodooprinz
                        Heerführer


                        • 10.06.2005
                        • 1222
                        • Berlin - Johannisthal
                        • Tesoro Silver Max

                        #12
                        WoW - Auch von mir ein dickes Lob
                        Tolle Erklärungen - tolle Fotos !!!
                        Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtet, dann nennt man sie Wissensdrang.

                        Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916), östr. Schriftstellerin

                        Suche privat Fotos aus Berlin-Johannisthal (bis ca. 1990)

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                        • Irrlicht
                          Bürger


                          • 11.06.2006
                          • 159
                          • Lemberg

                          #13
                          Hallo Jo!

                          Dein Bericht ist wieder 1A. Du läßt zwar selten was von Dir hören im Forum, aber wenn, dann hat die Sache Hand und Fuß!!!

                          Ich laß demnächst auch wieder von mir hören..äh...lesen.

                          Liebe Grüße vom Irrlicht
                          ------------------------------------------------------------------------------

                          +++++ Erste Frau, die einen SDE-Fotowettbewerb gewonnen hat!!! +++++

                          Kommentar

                          • blashyrk
                            Ritter


                            • 02.05.2006
                            • 362
                            • mitten im Westwall
                            • keiner

                            #14
                            absolute spitze!
                            respekt! großes lob!
                            gruß, blashyrk

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                            • Steinzeug
                              Ratsherr


                              • 21.07.2006
                              • 273
                              • Allgäu
                              • keiner

                              #15
                              @ all: Danke an alle für Eure wohlwollenden Kritiken, werde an weiteren Beiträgen basteln.

                              @ twinrider: So toll sind die Fotos auch wieder nicht, das kannst Du besser!

                              @ irrlicht: Da ich weniger Zeit habe, wie ich gerne möchte, bleibt mir nix anderes, wie auf Qualität zu setzten. Ich versuch Objekte zu finden, die hier nicht schon tausende vor mir breitgetreten haben. Allerdings kann ich den meisten hier im Forum beitragsmäßig weder bei Qualität noch bei Quantität das Wasser reichen, wenn ich mir anschaue, mit welcher Frequenz manche hier erstklassige Beiträge reinklopfen...

                              @ htim: Danke für Deine Erklärung. Kaum war der Beitrag online, bekam ich weitere Infos zu noch im Stadtbild erhaltenen DAG-Gebäuden, werd vielleicht noch nen zweiten Teil zu dem Objekt machen. Falls es zu den Produktionsabläufen und Einrichtungen solcher Objekte Bücher oder Links gibt, wär ich Dir für nen Tipp dankbar...

                              Grüße aus dem Allgäu, Jo

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